Storytelling

Tiny House im Vatikan

An einem Samstag des Jahres 2027 trafen sich drei führende Persönlichkeiten der Weltreligionen im Garten des vatikanischen Staates. 

Papst Franziskus hatte sich zum Zweck der Konversation einen Schaukelstuhl gewünscht und erhielt eine Hängematte. Der Dalai-Lama hatte eine Hängematte erbeten und bekam einen Hocker aus Holz. Ein Iman hatte einen Hocker aus Holz erbeten und nahm in einem Schaukelstuhl Platz. 

Alle drei bedankten sich höflichst und wollten sogleich mit dem Gespräch beginnen. Da rief der Imam: „Ach, lasst uns doch heute den Garten umgestalten!“ „Eine ausgezeichnete Idee!“, rief der Dalai-Lama, lächelte und erhob sich von seinem Hocker. 

Barfuß ging er über den exakt vier Millimeter hohen Rasen, spazierte quer über ein frisches Blumenbeet, grub seine Zehen in die noch taufeuchte Erde und blickte auffordernd die beiden anderen an, die es ihm gleichtaten. 

„Ein Baumhaus!“, rief der Imam. „Lasst uns ein Baumhaus bauen!“ Nach freudiger Zustimmung des Papstes und des Dalai-Lamas liefen sie zu dritt in den vatikanischen Schuppen, um dort zu sägen, zu bohren und zu hämmern. Holz gab es dort genug.


In wenigen Stunden und unter fachkundiger Anleitung des Papstes hatten sie ein kleines Häuschen in eine Pinie gebaut. Etwas windschief, aber gemütlich. „Ein kleiner Bauwagen!“, rief der Imam, „der fehlt noch zu unserem Glück! 

Mit einem Holzofen, einem gemütlichen Sofa und Blumen-Gardinen.“ Papst Franziskus telefonierte ein wenig herum und am späten Abend zog tatsächlich ein stattlicher Traktor einen ausrangierten Bauwagen quer über Tulpen- und Rosenbeete in den vatikanischen Garten. 

An den folgendenTagen wurde eine Holzverkleidung gebastelt, ein gebrauchter Holzofen, auf dem man sogar eine kleine Tasse Kaffee kochen konnte, wurde installiert und Gardinen mit bunten Blümchen wurden genäht.

Als Sofa verwendeten die Hoheiten zwei übereinander gestapelte Federkernmatratzen, auf denen man gut Purzelbäume schlagen konnte. Voller Tatendrang gruben sie noch drei Gemüsebeete in den fein säuberlich getrimmten Rasen. 

„Seht nur, Brüder“, rief Papst Franziskus selig, „wir haben ein kleines Stück Welt verändert!“ 

Und sie nahmen sich an den Händen und sprangen in fast kindlicher Freude im Kreis herum. „Morgen wollen wir Beerensträucher pflanzen! Für unsere Vögel!“, rief der Dalai-Lama. „Ja, Berberitze, Kornelkirsche und Liguster!“, fügte der Imam hinzu. 

Im goldenen Schimmer der untergehenden Sonne betrachteten sie stolz ihr Werk, schmiedeten Pläne für die nächsten Tage und gingen in freudiger Erwartung des kommenden Morgens zu Bett.

© Anna Derndorfer 2021-03-12